Soziales Lernen systematisch einüben
Egg/Kol - 20 Jahre Lions Quest-Programm „Erwachsen werden“ am Städt. Marie-Therese-Gymnasium in Erlangen – mehr als nur Suchtprävention
Von StRin Silvia Eggert und StD Armin Kolb
Während in den zurückliegenden Monaten seit der coronabedingt notwendig gewordenen Schulschließung in Bayern unser aller Fokus zunächst auf die Aufrechterhaltung des Bildungsauftrages gerichtet war, darf die gleichrangige Bedeutung des Erziehungsauftrages keinesfalls in den Hintergrund treten. Das Marie-Therese-Gymnasium nimmt in dieser Hinsicht als mehrfach ausgezeichnete Modellschule für das Lions Quest-Programm „Erwachsen werden“ seit 20 Jahren eine Vorreiterrolle ein.
Wie alles begann
Nach einem Projekttag zur Suchtprävention im März 2000 wurden wir vom MTG Erlangen durch den Lions Club Erlangen auf ein Konzept aufmerksam gemacht, in dem viele unserer pädagogischen Grundüberlegungen enthalten waren. Wir erkannten sehr schnell, dass sich das Lions Quest-Programm „Erwachsen werden“ wie maßgeschneidert in unsere Bemühungen einer nachhaltigen inneren Schulentwicklung integrieren ließ.
Kerngedanken und Konzept des Programms „Erwachsen werden“
Es ist mehr als ein reines Lebenskompetenzprogramm zur Suchtprävention und geht weit über andere Konzepte hinaus. Es bietet nach unserer Einschätzung den pädagogischen Handlungsrahmen für eine Schule der Zukunft und für eine Atmosphäre des Miteinander im Sinne unseres Wahlspruchs „Wir und unsere Schule“. Didaktisch klug und methodisch durchdacht werden den Lehrkräften wohlstrukturierte Vorschläge für weit über 70 Unterrichtseinheiten gemacht. Prof. Klaus Hurrelmann, der die Entwicklung des aus den USA adaptierten Programmes „Erwachsen werden“ in Deutschland maßgeblich wissenschaftlich begleitet hat, sieht in der „Aktivierung der sozialen Komponente des Lernens“ das genuine Markenzeichen von Lions Quest. Inhaltlich stehen dabei die wichtigsten Fragestellungen junger Menschen von der 5. bis zur 10. Klasse im Mittelpunkt: Die Schüler*innen sollen lernen, ihre Stärken zu erkennen, andere anzunehmen, Konflikte fair auszutragen und Verantwortung für sich und die Gemeinschaft zu übernehmen.
Themenschwerpunkte des Programms „Erwachsen werden“:
- Mitschülerinnen und Mitschüler besser kennen lernen
- Selbstvertrauen stärken und die Fähigkeit zur Kommunikation entwickeln
- Gefühle verstehen und angemessen mit ihnen umgehen
- Freundschaften verbessern und Gruppendruck standhalten
- Beziehungen in der Familie verbessern
- sich kritisch mit Versuchungen, z. B. durch Werbung oder Suchtmittel, auseinandersetzen
- sich Ziele für ein erfolgreiches Leben setzen
Neben Altbewährtem werden viele innovative Methoden, die sich auch leicht im regulären Unterricht einsetzen lassen, praxisnah vorgestellt. So genannte „Energizer“ – kleine spielerische Übungen - zum Beginn oder am Ende einer Unterrichtsphase bzw. zur Auflockerung tragen z. B. auch dem Bewegungsbedürfnis der Schüler*innen Rechnung. Sie können, zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt, Wunder wirken. Gerade für einen mehrheitlich im Doppelstundenprinzip rhythmisierten Unterricht, aber auch für das anstrengende Lernen zuhause in einem Unterricht in hybrider Form bietet Lions Quest hier ebenso praktikable wie auch in digitaler Form adaptierbare Elemente abwechslungsreichen Unterrichts.
Keine Lehrkraft sollte sich von dem voluminösen Ordner abschrecken lassen, den sie mit Beginn der Ausbildung erhält, denn bereits nach kurzem Studium wird klar, dass sich das „Erwachsen werden“-Programm als Angebot an Lehrer*innen versteht, das sich auf die eigenen Bedürfnisse hin auch situationsbezogen einsetzen lässt – vorausgesetzt, man versteht die Basis, den Hintergrund, auf dem das Programm aufbaut.
Dieses Verständnis wird in dreitägigen Einführungslehrgängen von hochkompetenten Trainern*innen vermittelt, die alle nach einem bundesweit einheitlich hohen Standard ausgebildet werden, und in praxisnahen Übungen entwickelt. Nachdem die ersten Kollegen*innen unserer Schule diese Einführung vor zwanzig Jahren absolviert hatten, war uns klar, dass wir mit dem Programm nicht nur punktuell arbeiten wollten. Wir wollten der Qualität des Konzeptes gerecht werden, indem wir von Anfang an bestrebt waren, mit möglichst vielen Lehrkräften in möglichst allen Klassen der Unterstufe „Erwachsen werden“ anzubieten.
Zur Umsetzung von „Erwachsen werden“ am MTG
Dank der Großzügigkeit des Lions Clubs Erlangen und der Aufgeschlossenheit des Kollegiums kann das Programm jetzt seit beinahe zwei Jahrzehnten in allen Klassen der Jahrgangsstufen 5 systematisch im Rahmen einer mit zwei Lehrerwochenstunden ausgestatteten Klassenstunde umgesetzt werden. Ab Jahrgangsstufe 6 und höher verfolgen wir dann im Rahmen einer rollierenden Klassenstunde einen situativen Ansatz. 64 Lehrer*innen sammeln seit 2001 Erfahrungen mit den Unterrichtseinheiten und tauschen diese in regelmäßigen pädagogischen Sitzungen aus, welche von einer Lions Quest-Koordinatorin geleitet werden. Die Lehrerteams sind für die Umsetzung in den einzelnen Klassen verantwortlich. Dazu kommt die große Herausforderung, eine Form der Kooperation mit den Eltern zu finden, ohne die unsere Ziele nicht zu erreichen sind.
Der Bildungswissenschaftler Hurrelmann weist explizit darauf hin, „wie ungeheuer wichtig ein Verständnis und eine Kooperation zwischen den professionellen Akteuren in der Schule, den Lehrkräften auf der einen Seite, und Eltern auf der anderen Seite ist.“ Er sieht in der Arbeit mit Lions Quest die große Chance, die Bildungs- und Erziehungspartnerschaft zwischen Erziehungsberechtigten und der Schule auf ein solides Fundament zu stellen – eine Einschätzung, die das MTG als Modellschule nur unterstreichen kann, denn die über den reinen Fachunterricht hinausgehende Arbeit mit „Erwachsen werden“ generiert ein Vertrauen, das systemstabilisierende Institutionen wie die Schule besonders im Blick auf die sich abzeichnenden gesellschaftlichen Verwerfungen nicht genug aufweisen können.
Die Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis
Was bringt „Erwachsen werden“ nun konkret für den Schulalltag? Anhand von vier Thesen, die aus der Praxis entwickelt wurden, soll diese Frage geklärt werden:
1. Das Lions Quest-Programm wirkt sich positiv auf das Schulklima aus.
Durch den kontinuierlichen Erfahrungsaustausch wird eine solide Vertrauensbasis auf allen Ebenen des Schullebens gefördert, was aus unserer Sicht zu einem besseren Schulklima beiträgt. Die Lehrer*innen, die ihre Arbeit mit dem Programm konsequent in den Klassen- und Jahrgangsstufenteams koordinieren und dokumentieren, pflegen einen intensiven Kontakt zu den Eltern über Elternbriefe, themenorientiert-interaktive Elternabende etc. Diese wissen die weit über die Inhalte des Fachunterrichts hinausgehende Arbeit mit ihren Kindern zu schätzen.
2. Die Arbeit mit „Erwachsen werden“ erhöht die Methodenkompetenz der Lehrkräfte.
Über die Einübung und Anwendung handlungsorientierter Unterrichtsmethoden auf und nach den Einführungsseminaren werden den Lehrkräften Alternativen zu den „klassischen“ Unterrichtsmethoden vertrauter, wodurch man einerseits mehr Zeit für die Beobachtung der Schüler*innen und somit auch für gezielte Fördermaßnahmen bekommt, andererseits aber auch der Blick geschärft werden kann für eine oft durchaus kritische Selbstreflexion der eigenen Lehrerrolle. Zudem ergeben sich auf Grund der Teamarbeit in den Klassen häufiger Ansatzpunkte für eine fächerübergreifende Zusammenarbeit und die Vernetzung verschiedener Themenbereiche. Das trägt in unseren Augen mittelfristig zu einer Verbesserung der Unterrichtsqualität bei.
3. Mit Hilfe des Lions Quest-Unterrichts wird bei Schülern*innen die Entwicklung von Schlüsselqualifikationen gefördert.
Der Lions Quest-Unterricht kann einen wichtigen Beitrag zur Schülerqualifikation leisten. Etliche Kinder bringen unserer Erfahrung nach Defizite in den Bereichen Teamfähigkeit, Strukturierung der eigenen Arbeit und der Fähigkeit, sich realistische Ziele zu setzen, mit ans Gymnasium. Durch das selbstständige Lernen in Kleingruppen, welches bei „Erwachsen werden“ eine zentrale Rolle spielt, wird – freilich nur bei kontinuierlicher Einübung – so eine bessere Ausschöpfung der Leistungspotenziale möglich, zumal die Methodik sowie auch die Philosophie des Miteinander immer mehr in den regulären Fachunterricht diffundieren.
4. Durch das Lions Quest-Programm wird gezielt die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins bei den Schülern*innen gefördert.
Wenn wir unsere Aufgabe als Lehrkräfte nicht nur darin sehen, Wissen zu vermitteln und Fähigkeiten auszubilden, wir auch kontinuierlich dafür sorgen, dass unsere Schüler*innen Anerkennung bekommen – sowohl von uns Lehrern*innen und den Eltern als auch von der Klassengemeinschaft – und Verantwortung übernehmen, dann kann langfristig, davon sind wir überzeugt, das Selbstbewusstsein der Kinder gestärkt werden.
Klassenstunden mit Lions Quest-Inhalten wirken sich also positiv auf die Schüler*innen aus und stärken diese, wie uns das Feedback der Schüler*innen widerspiegelt. Am MTG gelingt das auch deshalb gut, weil es pädagogischer Konsens von Lehrkräften und Schulleitung ist, die/den Schüler*in in den Mittelpunkt des professionellen Lehrerhandelns zu stellen. Sie schätzen den Kerngedanken des Miteinander bei Lions Quest und durften in rund 220 Fortbildungstagen auf insgesamt gut 100 Lions Quest-Einführungs- und Aufbauseminaren einen herausragenden Professionalitätsgrad erwerben. Außerdem geht bei Lions Quest der Erziehungsauftrag mit dem Bildungsauftrag Hand in Hand, und das Programm „Erwachsen werden“ stellt hierfür ein bundesweit einmaliges, über die Grenzen der Partikularinteressen von Ländern und Schularten hinausweisendes pädagogisches Instrument zur professionellen Zusatzqualifikation von Lehrkräften dar, um systematisch die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen.
Zur Bedeutsamkeit der pädagogischen Arbeit im Zeichen von Covid-19
In diesen Zeiten der Pandemie zeigt sich, wie wichtig das Programm „Erwachsen werden“ auch in der Krise ist. Lions Quest stellt einen Baustein unserer Bewältigungsstrategie dar, indem wir im Frühjahr/Sommer die auf Grund der Hygienevorgaben im Rahmen der sukzessiven Wiederaufnahme des Unterrichts entfallenen Sportstunden in Unter- und Mittelstufe mit Inhalten wie „Erwachsen werden" zu füllen in der Lage waren. Schwerpunkte lagen dabei auf der Stärkung der Schüler*innen und der Reflexion der vergangenen Wochen, die für viele von ihnen nicht einfach waren. Dazu eigneten sich vor allem Themen wie „Gefühle beschreiben“, „Verantwortung übernehmen“, „Bei Stress einen kühlen Kopf behalten“ sowie „Konflikte lösen ohne Streit“. Gerade in dieser schwierigen Zeit waren die Schüler*innen damit häufig konfrontiert und Lions Quest sollte ihnen helfen, diese großen Herausforderungen zu meistern. „Die Stärke von Lions-Quest war und ist, darauf aufmerksam zu machen und Modelle dafür anzubieten, wie dem normalen Unterricht mit der unvermeidlichen Trainingskomponente und der starken kognitiven Akzentsetzung die soziale Komponente hinzugefügt werden kann. Es ist gar nicht möglich, kognitiv zu lernen, wenn die sozialen Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind“, betont Prof. Hurrelmann in einem Interview mit Laurent Wagner, Projektkoordinator bei der Stiftung der Deutschen Lions im Mai 2020. Deshalb ist es höchst erfreulich, dass das Lions Quest-Programm derzeit an das Blended learning, also das System, in dem computergestütztes Lernen und klassischer Unterricht kombiniert werden, angepasst wird.
Letztes Jahr haben wir die Auszeichnung ein viertes Mal mit fünfjähriger Gültigkeit verliehen bekommen. Wir sind sehr stolz und freuen uns über die dritte Rezertifizierung in Folge. Unser Dank gilt unserem Kooperationspartner, dem Lions Club Erlangen, ohne den die wertvolle pädagogische Arbeit in den letzten beiden Dekaden nicht möglich gewesen wäre.
Fazit:
Aus der Sicht von Schulleitung und Lehrkräften des MTG Erlangen kann das Lions Quest-Programm „Erwachsen werden“ nicht nur einen Beitrag zur Professionalisierung der Suchtprävention leisten, es unterstützt darüber hinaus eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung der Schüler*innen, schult die Methodenkompetenz der Lehrkräfte, fördert das Schulklima und gießt das Fundament einer tragfähigen Bildungs- und Erziehungspartnerschaft.